Nach der umjubelten Premiere bei den Schwetzinger Festspielen 1964 und einer Übernahme nach Hamburg verschwand Georges Aurics Musik zu Molières Der Herr aus der Provinz im Archiv. Nun ruft die überaus wirksame Musik nach einer Wiederentdeckung – konzertant oder mit dem Lustspiel.
In Monsieur de Pourceaugnac oder Der Herr aus der Provinz greift Molière gleich mehrere seiner Lieblingsthemen auf: die Blamage von Emporkömmlingen, die Lust an Verkleidung und Täuschung sowie seine bekannte Intimfeindschaft gegenüber der Medizin. Diese nur selten gespielte Komödie mit Gesang und Tanz zieht alle Register sprühender Drolerie:
Monsieur de Pourceaugnac, ein geschmackloser Parvenü aus der Provinz, kommt nach Paris. Er will Julie heiraten, eine gute Partie. Sie ist die Tochter des reichen Bürgers Oronte, der sich von dem Blender einwickeln lässt. Julie aber liebt Eraste. Zusammen mit dem gewieften Neapolitaner Sbrigani und der intriganten Nerine heckt das junge Paar einen Plan aus, um dem plumpen Ungeliebten Streiche zu spielen, denn man will ihn loswerden, vor allem gilt es, den autokratischen Vater Oronte umzustimmen. Doch nicht nur Pourceaugnacs Lächerlichkeit wird in all dem Trubel entlarvt, sondern ebenso die des Apothekers, des Arztes und anderer bürgerlicher Institutionen. Das groteske Spiel mit Überzeichnung und Verwechslung geht auf: Der Provinzler hat genug und macht sich aus dem Staub, das Liebespaar erhält endlich seinen Segen und kann sich obendrein über eine beachtliche Mitgift von Oronte freuen …
Als die Schwetzinger Festspiele 1964 den renommierten Regisseur Oscar Fritz Schuh für die Produktion dieses Stücks verpflichteten, gab man Georges Auric den Auftrag für die Schauspielmusik. Welches Haus kann es sich heutzutage noch leisten, ein Orchester und Singstimmen in eine Schauspielproduktion einzubinden? Außerdem steuerte der seinerzeit bekannte Autor und Übersetzer Hans Weigel eine sprachlich äußerst subtile und bühnenwirksame deutsche Nachdichtung bei. Die vier Aufführungen in Schwetzingen mit bekannten Schauspielgrößen wie Heinz Reincke, Hermann Schomberg, Gerhard Bünte und Erni Mangold wurden von der Kritik bejubelt. Anschließend kam die Produktion nach Hamburg ans Deutsche Schauspielhaus – und eines Tages stand das Stück zum letzten Mal auf dem Spielplan. Die Partitur, der Klavierauszug und das Aufführungsmaterial von Aurics Schauspielmusik schlummern seit Jahrzehnten in den Regalen – nicht zuletzt Folge einer veränderten Aufführungspraxis im Schauspielbereich. Das riesige Repertoire an Schauspielmusiken birgt noch viele Schätze!
Georges Auric (1899–1983) gilt als einer der führenden Komponisten Frankreichs. Der Freund Erik Saties und Mitglied der legendären „Groupe des Six“ hatte neben seinerzeit vielgespielten Werken in nahezu allen Genres auch große Anerkennung als Musikschriftsteller und Kolumnist im Feuilleton gefunden. Von ihm stammt auch die Musik zu diversen Kultstreifen, darunter Lohn der Angst, Rififi, Lieben Sie Brahms?, Bonjour Tristesse. Die aus seinen Filmmusiken bekannte instrumentatorische Raffinesse und dramatische Präsenz bestimmt auch diese Schauspielmusik, eine meisterhafte, mit leichter Hand gesetzte Komposition. Sie ist dieser hinreißenden Komödie kongenial auf den Leib geschneidert, denn ebenso wie das Schauspiel ist auch die knappe, pointiert formulierte Musik bestimmt vom Charakter des Petit Rien, des Divertimentos. Nach der Uraufführung am 28. Mai 1964 lobte die FAZ an Aurics Musik vor allem die „Mischung aus barocken Anklängen und moderner, witziger Instrumentierung.“
Mit einem Kammerorchester und vier Singstimmen, die auch die kurzen Chorpassagen mit übernehmen können, bleibt die Besetzung in bescheidenen Dimensionen. Auric kleidet die kecke Amoralität dieser brillanten Molière-Farce in ein höchst reizvolles Kostüm, das auch bei einer konzertanten Aufführung mit Erzähler überraschende Einblicke in das facettenreiche Halbdunkel unter dem Saum gewährt. Eine Entdeckung!
Michael Töpel
aus [t]akte 2/2011