Wenn sich Tristan Murail mit der Gattung des Solokonzerts beschäftigt, genießt er gewissermaßen das Vorrecht eines reifen Komponisten. Am 4. Mai 2012 wird sein Konzert für Klavier und Orchester Le Désenchantement du monde (Editions Henry Lemoine, Vertrieb: Bärenreiter · Alkor) in München im Rahmen von „musica viva“ durch den Pianisten Pierre-Laurent Aimard und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von George Benjamin zur Uraufführung gebracht. Murail, der dieses Jahr 65 Jahre alt wird, schuf 2007 mit Contes cruels für zwei elektrische Gitarren und Orchester bereits ein Solokonzert, nachdem er schon 1976 Mémoire/érosion für Horn und Instrumentalensemble komponiert hatte. Mit seinem Klavierkonzert stellt er sich nunmehr einer neuen Herausforderung, ähnlich wie es vor Kurzem bei Les Sept paroles der Fall war, einem Oratorium für Chor, Orchester und Elektronik, in dem Murail neueste Computertechniken zur künstlichen Produktion von Singstimmen einsetzte.
Während seiner ganzen Schaffenszeit hat sich Murail immer wieder mit den Klangspektren des Orchesters bzw. des Klaviers auseinandergesetzt, die Traumwelten gleichkommen. Davon zeugen seine erfolgreichen großbesetzten Orchesterwerke (z. B. La Dynamique des fluides, 1990/91, und Terre d’ombre, 2003/04) und seine durch und durch persönliche Aneignung der dem Klavier eigenen Klangfülle (z. B. in Estuaire, 1971/72, in La Mandragore, 1993, oder auch in Les Travaux et les jours, 2002). Triebfeder für diese angewandten Erforschungen von Orchester- und Klavierklängen ist Murails große Leidenschaft für komplexe Harmonien, die ihn zum Ende seiner Jugendzeit in die Kompositionsklasse von Olivier Messiaen am Pariser Conservatoire und schließlich zu einer Beschäftigung mit Klangkomponenten an sich führte. Die Logik einer Komposition folgt bei Tristan Murail zwingend einem vom Klang ausgehenden Werden. Hugues Dufourt schuf dafür den Begriff der „spektralen Musik“. Dabei handelt es sich um eine Strömung unterschiedlichster stilistischer Ausprägungen, in die sich auch andere französische Komponisten der Gegenwart einordnen lassen, darunter Hugues Dufourt selbst sowie Michaël Levinas.
Das Solokonzert wurde von den Avantgardebewegungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so grundsätzlich in Frage gestellt wie andere musikalische Gattungen, allen voran die der Oper. Im Gegenteil schien es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz selbstverständlich, errungene Innovationen im Bereich der Tonsprache einem Solisten anzuvertrauen; die systematische Erforschung von Klangmöglichkeiten innerhalb der vom traditionellen Instrumentenbau gesetzten Grenzen führte dabei zu höheren technischen Anforderungen an die Interpreten. Unter gattungsgeschichtlichem Aspekt ist es interessant zu bemerken, dass sich im Katalog der Editions Henry Lemoine viele Solokonzerte in den verschiedensten Besetzungen ausmachen lassen: für einen Solisten und Ensemble, für mehrere Solisten und Orchester (dazu gehören viele Werke von Michael Jarrell) sowie, mehr der klassischen Tradition folgend, für einen Solisten und Orchester wie dieses Jahr im Fall von Tristan Murail, Michael Jarrell und Bruno Mantovani.
Am 4. Februar 2012 brachten Jean-Guihen Queyras und das Utah Symphony Orchestra unter der Leitung von Thierry Fischer in Salt Lake City Michael Jarrells Konzert für Violoncello und Orchester Emergences (Nachlese VI) zur Uraufführung. Nur wenig später, am 1. März, wurde dieses Solokonzert in Lyon im Rahmen der Biennale „Musique en Scène“ nachgespielt (Orchestre National de Lyon). Und in der Salle Pleyel in Paris wurde am 18. Februar 2012 Bruno Mantovanis Concerto pour violon et orchestre uraufgeführt, und zwar von Renaud Capuçon, dem das Werk gewidmet ist, und dem Orchestre de l’Opéra National de Paris unter der Leitung von Philippe Jordan.
Benoît Walther
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)
(aus [t]akte 1/2012)