Ganz für sich schrieb Ernst Krenek 1935, kurz vor seiner Emigration, den ersten Teil eines Oratoriums über den Säulenheiligen Symeon. Kompositionstechnisch seiner Zeit weit voraus, besticht dieses Werk der klassischen Moderne durch seine überwältigende Wirkung und mitreißende Stringenz
„Der Inhalt des Oratoriums ist die Geschichte des heiligen Symeon, der im 5. Jahrhundert n. Chr. in Syrien 37 Jahre seines Lebens auf einer Säule stehend verbracht haben soll, von einem Teil der Menge als neuer Messias angebetet, von anderen als empörendes Skandalon verworfen, wie in Hugo Balls Buch Byzantinisches Christentum berichtet wird. Die Erzählung (Mezzosopransolo) wird vielfach vom Chor unterbrochen, der Psalmen in lateinischer Sprache vorträgt. Ein Sprecher kommentiert gelegentlich und bringt das Werk zum Abschluß mit einem Ausblick auf die symbolhafte Bedeutung der Exzesse des heiligen Symeon.“
Ernst Krenek beschreibt in dieser knappen Notiz von 1988 den Handlungsstrang seines rund 40-minütigen Oratoriums. Was hier nicht mitgeteilt wird, ist der ungewöhnlich lange Weg bis zur Uraufführung.
Er begann Mitte 1935. Das Werk entstand ohne Auftrag, Krenek schrieb es ganz für sich und hielt sich mit Äußerungen zurück, wie aus dem kryptischen Briefhinweis vom 10. August 1935 an seinen Verlag deutlich wird: „ich habe auch ein wenig gearbeitet, worüber ich mich aber erst später äußern möchte.“ In einem privaten Kompositionstagebuch dokumentierte Krenek die Werkkonzeption sowie den Arbeitsfortschritt. Nur selten erhält man die Möglichkeit, so detailliert die Genese eines Werkes nachzuvollziehen!
Über die Wahl dieses zunächst entlegen anmutenden Stoffes äußerte der Komponist rückblickend kurz vor der Uraufführung 1988:
„Ich hatte […] – insbesondere nach der 1934 erfolgten und auf nazistische Umtriebe zurückführbaren Verwerfung meines Bühnenwerkes Karl V. durch die Wiener Staatsoper – den Eindruck gewonnen, daß ein Zwölftonkomponist zu einem Paria, einem öffentlichen Ärgernis, einem Skandalon geworden war. Das brachte mich auf den Gedanken, die Geschichte Symeons des Styliten als Oratorium zu gestalten.“
Die Abschnitte des ersten Teils, der die Lebensgeschichte schildert, schließen sich als imposanter 40-minütiger Sonatensatz zusammen. Dieser formalen „Absicherung“ in der Orientierung an überkommene Topoi steht eine bemerkenswerte dodekaphon-strukturelle Innovation gegenüber, die kompositionstechnische Entwicklungen serieller Determination späterer Jahrzehnte antizipiert.
Ursprünglich sollte ein zweiter Teil von den legendären, aber undramatischen Taten des Symeon berichten. Möglicherweise war auch dies ein Grund für den Abbruch der Arbeit. Wenig später musste Krenek emigrieren, die Erinnerung an sein Fragment verblasste, in seiner in Amerika verfassten Autobiografie Im Atem der Zeit erwähnte er es nur kurz. Erst in den 1980er Jahren wurde das Autograph wieder in Augenschein genommen, und endlich erlebte Symeon der Stylit bei den Salzburger Festspielen 1988 seine glanzvolle Uraufführung – mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung. Auch die Presse berichtete überaus positiv, wie die Süddeutsche Zeitung am 17. August 1988: „ein Kunst-Stück großen Formats, […] überwältigend in seiner unmittelbaren Wirkung, trotz formaler Strenge von mitreißendem dramatischen Elan, trotz geringem materiellem Aufwand von großem Klangvolumen.“
Michael Töpel
(aus [t]akte 1/2012)