Die neue Urtext-Edition von Monteverdis Marienvesper möchte „komplette“ Aufführungen ebenso ermöglichen wie Teilaufführungen.
Monteverdis Marienvesper von 1610 ist heutzutage zweifellos das populärste Werk liturgischer Musik des siebzehnten Jahrhunderts. Oft wird sie aufgeführt und eingespielt; und die vielen Fragen, die sie aufgibt, werden beständig und intensiv erforscht und debattiert. Eine moderne Edition ist dennoch eine Herausforderung, insbesondere im Hinblick auf die Interpretation des Quellenzusammenhangs. Dies fängt schon bei der Frage an, ob es sich überhaupt um ein einheitliches Werk handelt oder nicht vielmehr um eine Sammlung unterschiedlicher Sätze; es geht weiter mit Schwierigkeiten, einen konkreten historischen Anlass, einen konkreten liturgischen Zusammenhang, zu ermitteln; und es führt schließlich zu Detailfragen, wie bestimmte Diskrepanzen zwischen den einzelnen Quellen zu interpretieren sind. Alle diese Dinge hängen direkt miteinander zusammen und benötigen damit alle eine eindeutige Antwort, damit ein eindeutiger Notentext erstellt werden kann.
Genau dies hat sich eine Gruppe an der University of North Texas zur Aufgabe gemacht. Unter meiner Leitung als General Editor haben zehn Studenten jeweils wenigstens einen Satz kritisch ediert und dabei auch die Arbeit ihrer Kollegen kommentiert. Gemeinsam haben wir den historischen Zusammenhang erforscht und auf dieser Grundlage eine neue, individuelle Lesart der Quellen entwickelt, die ihrerseits eine einzigartige editorische Herangehensweise zur Folge hatte: Anstatt die Marienvesper als einheitliches Werk zu sehen, das für einen genau festgelegten Zweck komponiert worden ist und das stets in seiner Gesamtheit aufgeführt werden sollte, sind wir der Auffassung, dass es sich um eine Sammlung von Sätzen handelt, die zu verschiedenen Anlässen verwendet werden konnte, je nach Bedarf.
Monteverdi hat den Druck von 1610 mit drei Hauptzielen zusammengestellt: erstens, um eine Sammlung geistlicher Musik herauszugeben, die zum Ruhme Gottes im Stundengebet zu verschiedenen Anlässen verwendet werden konnte; zweitens, um seine Meisterschaft als Komponist polyphoner Kirchenmusik zu beweisen, insbesondere im Zusammenhang mit seiner Kontroverse mit Artusi; und drittens, um eine Art Bewerbungsmappe für Kapellmeisterstellen an diversen Kirchen Italiens anzulegen. Wir sehen also die Marienvesper als eine Sammlung von individuellen Sätzen, die nicht dazu gedacht war, eine bestimmte einheitliche Liturgie abzubilden, sondern die geeignete Sätze für eine große Anzahl von Anlässen bereitstellen sollte, sowohl für die Liturgie als auch für private Andacht.
Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass die Marienvesper zu Monteverdis Zeiten je vollständig aufgeführt wurde, stellt das Werk dennoch eine künstlerische Einheit dar, da ihr Komponist sie sorgfältig zusammengestellt hat, um seine beste kompositorische Arbeit in einer großen stilistischen Bandbreite zu zeigen: klassische Vokalpolyphonie, konzertierender Stil sowie moderne Dialoge und Monodie auf der Grundlage eines Basso continuo.
Es war spannend zu sehen, welche praktischen Auswirkungen diese Ideen hatten, und wie sie wiederum die Edition beeinflussten, von der Interpretation melodischer Varianten zwischen verschiedenen Stimmbüchern bis hin zur Platzierung hinzugefügter Akzidenzien (man vergleiche unsere Fassung des „Lauda Jerusalem“ mit anderen Interpretationen dieses problematischen Satzes). So bietet unsere Edition ein neues und frisches Bild von Monteverdis vierhundert Jahre altem Werk.
Eine Aufführung der Marienvesper in ihrer Gesamtheit ist immer ein erhebendes Ereignis. Wir möchten allerdings auch dazu ermutigen, einzelne Sätze aus dieser Sammlung aufzuführen, in verschiedenen Zusammenhängen und zu verschiedenen Anlässen, da dies höchstwahrscheinlich der Verwendung dieser Musik zu Monteverdis Zeiten entspricht. Auch ein Satz wie das „Magnificat sex vocibus“ gelangt so wieder zu seinem Recht, das normalerweise in modernen Aufführungen zu Gunsten des „Magnificat septem vocibus“ weggelassen wird: es ist ein höchst individueller Satz voll eigenartigem Charme und Schönheit.
Hendrik Schulze
(aus [t]akte 1/2013)