Francesco Cileas schmales Opernschaffen nimmt eine singuläre Position im veristischen Musiktheater ein.
Francesco Cilea (1866–1950) zählt neben Pietro Mascagni, Ruggero Leoncavallo und Umberto Giordano zu den wichtigen Vertretern der sog. „Giovane scuola italiana“, jener jungen Komponistengeneration, die sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aufmachte, dem italienischen Musiktheater neue Perspektiven zu eröffnen. Man wandte sich entschieden gegen Wagners Gesamtkunstwerk, in gleicher Weise aber auch gegen die Vorrangstellung des französischen Drame lyrique und die „Überväter“ des italienischen Musiktheaters Rossini, Donizetti und Verdi. Dieser Weg führte über die Auseinandersetzung mit den Werken des literarischen Verismo. Mit Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana fand der musikalische Verismo seine idealtypische Formulierung, mit Ruggero Leoncavallos Pagliacci sein musikästhetisches Manifest.
Unter den Komponisten des veristischen Musiktheaters nimmt Francesco Cilea eine singuläre Position ein. Sein Œuvre ist schmal, es umfasst einige Instrumentalwerke, wenige Lieder und fünf Opern.
„Gina“ und „La Tilda“
Cilea komponierte zum Abschluss seiner erfolgreichen Studien am Konservatorium San Pietro a Majella in Neapel seine erste Oper Gina nach einem Libretto von Enrico Golisciani. Nach der erfolgreichen Uraufführung 1889 dort machte Cileas Lehrer Paolo Serrao den Komponisten mit dem Mailänder Verleger Edoardo Sonzogno bekannt. Sonzogno, Initiator und Förderer des musikalischen Verismo, erkannte in Cileas Erstlingsoper die im szenischen Bereich angesiedelten Möglichkeiten des Komponisten und band ihn durch einen Kompositionsauftrag an sein Verlagshaus. Cilea komponiert daraufhin nach einem Libretto von Anneldo Graziani (Pseudonym von Angelo Zanardini) die Oper La Tilda; ein dreiaktiges Melodramma, das sich in mehrfacher Hinsicht an Pietro Mascagnis veristischem Prototyp Cavalleria rusticana orientiert und dessen normsetzenden Charakter unterstreicht. Einerseits kreist La Tilda inhaltlich um das bäuerliche Leben vor den Toren Roms in der Campagna und fragt wie Cavalleria rusticana nach dem Gelingen und Scheitern von Liebe in den Norm- und Moralvorstellungen einer bäuerlichen Gemeinschaft. Andererseits folgt Cilea dem Vorbild, wenn er die Dramaturgie der Oper auf die klassische Nummernabfolge des italienischen Musiktheaters gründet, die Nummern in der Mehrzahl aber sog. zitierte Lieder darstellen: Lieder und Tänze wie Ballata, Stornello und Saltarello durchziehen die Oper; die Titelheldin Tilda – eine Sängerin und Tänzerin – stellt sich mit einer gitarrenbegleiteten Canzone vor; eine weit ausladende Gebetsszene, eine Preghiera und ein „Ave Maria“ garantieren hingegen den für La Tilda zentralen Religioso-Ton. Indes greift Cilea insbesondere dann über Pietro Mascagni hinaus, wenn er auch traditionelle Formen wie Duette und Terzette „zitiert“, diese aber bis zur Unkenntlichkeit transformiert und in den Dienst einer detailreichen Figurencharakteristik stellt: Hier ereignet sich die Individualisierung der Figuren, hier finden die Protagonisten musikalisch zu sich selbst, und damit erweist sich Cilea schon in seiner ersten großen Arbeit fürs Musiktheater als ein Komponist präziser musikalischer Psychologie.
La Tilda wurde am 7. April 1892 im florentinischen Teatro Pagliano uraufgeführt. Die Premiere war für Cilea kein Erfolg, und selbst die Teilnahme an der von Edoardo Sonzogno organisierten Europa-Tournee mit veristischen Opern 1892 in Wien, Paris und Berlin vermochte La Tilda nicht dauerhaft im Repertoire zu verankern.
„Adriana Lecouvreur“
Den ersehnten Durchbruch erlebte Francesco Cilea am 6. November 1902, als am Teatro Lirico in Mailand die Oper Adriana Lecouvreur nach einem Libretto von Arturo Colautti uraufgeführt wurde – eine Oper, die innerhalb weniger Jahre an allen großen Häusern weltweit aufgeführt wurde und Cileas Ruf als einer der führenden italienischen Komponisten der Zeit begründete.
Adriana Lecouvreur ist ein Werk des historischen Verismo. Der Oper liegt das fünfaktige Schauspiel von Eugène Scribe und Ernest-Wilfried Legouvé zugrunde, in dem der Skandal um den mysteriösen Tod der Schauspielerin Adrienne Lecouvreur im Jahre 1730 thematisiert wird. Die Autoren haben dabei zwar die historische Wirklichkeit auf die Bühne gebracht, allerdings greifen bereits die Stoffbearbeitung und die Funktion des Schauspiels über die Idee einer bloßen Widerspiegelung historisch gesicherter Realität hinaus. Scribe und Legouvé bearbeiteten den Stoff – konzentriert auf die Lecouvreur im Spannungsfeld zwischen ihrer künstlerischen Gegenspielerin Mademoiselle Duclos und ihrer privaten Gegenspielerin um die Gunst des Moritz von Sachsen: der Herzogin von Bouillon – unter Anlehnung an die historische Wahrheit für die französische Schauspielerin Elisa Rachel; einer Tragödin, die seit 1838 an der Comédie-Française brillierte und auf internationalen Tourneen vor allem mit Dramen Racines Weltruhm erlangte. Das Leben einer Schauspielerin, dramatisiert für die Bühne und als Paraderolle für eine Tragödin des 19. Jahrhunderts konzipiert, wird schließlich zu einem Opernstoff. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion beginnen zu verschwimmen, es entwickelt sich ein kunstvolles Spiel der Realitäts- und Fiktionsebenen. Und es ist gerade dieses Changieren, das der Oper eine herausragende Position innerhalb der Geschichte des veristischen Musiktheaters garantiert. Bereits die Eröffnung der Oper gibt dafür ein sinnfälliges Beispiel ab. Eine Schauspieltruppe bereitet die Vorstellung zweier Werke vor: Bajazet von Jean Racine und Les Folies Amoureuses von Jean-François Regnard – und es ist zugleich ein verschlüsselter Prolog. Bajazet ist eine im Serail des Großvesirs von Konstantinopel angesiedelte Tragödie, Les Folies Amoureuses hingegen eine Komödie, so dass die Kontrastierung der Werke in direkter Beziehung zum Commedia-dramma Adriana Lecouvreur steht. Darüber hinaus antizipieren die beiden Schauspiele dramaturgisch nicht nur den weiteren Fortgang der Handlung, sondern auch das tragische Ende der Lecouvreur.
Eng mit dem Wechsel der Fiktionsebenen ist das dramaturgische Problem der Darstellung einer Schauspieltragödin auf der Opernbühne verknüpft. Colautti und Cilea haben diesen Sachverhalt bereits mit dem ersten Erscheinen Adrianas thematisiert und insofern zugleich ihre Ästhetik formuliert. Adriana tritt als Roxane in orientalischem Kostüm auf und deklamiert als Einstimmung auf die bevorstehende Aufführung bedächtig die zweite Szene aus dem zweiten Akt von Bajazet, in der Roxane ihren Widerstand gegen den Sultan aufgibt. Adriana unterbricht sich selbst nach dem ersten Vers und erhebt ihre Stimme zum Gesang. Die gesprochene Sprache erweist sich dabei unter rezeptionsästhetischem Aspekt im Kontext einer Oper als gleichsam zweite fiktionale Ebene, und sie ist in ihrem Realitätsgehalt insofern dem gesungenen Wort nachgeordnet, als die von Adriana angestrebte Interpretation des Textes mit der gesprochenen Sprache nicht realisiert werden kann. Erst das gesungene Wort kann den wahren Gehalt des Textes vergegenwärtigen. Als Antwort auf die Reaktion der anwesenden Schauspielerkollegen formuliert Adriana das Credo ihres Künstlertums in der Arie „Io son l’umile ancella“. Sie versteht sich und ihre Stimme als ein Instrument des Dichters, das einzig der Wahrheit zu folgen hat; die unverstellte und authentische Äußerung der Emotion im Gesang ist aber nicht nur Ziel der Protagonistin, sondern ästhetisches Paradigma des Verismo überhaupt.
Maßgeblich für die musikdramaturgische Konzeption von Adriana Lecouvreur ist Cileas Verpflichtung auf die Idee des historischen Verismo. Eine authentische Musik des 18. Jahrhunderts soll der Historie zur Vergegenwärtigung verhelfen. Zahlreiche Themenformulierungen spielen darauf an, Raum und Zeit finden ihren Widerhall in leitmotivisch gesetzten Tanzgesten der Barockzeit, schließlich nutzt Cilea das Ausdrucks- und Formenspektrum des Settecento – wie sie John Brown in den Lettres on the Italien Opera (1791) beschrieben hat: von der Aria cantabile über die Aria di mezzocarattere und die Aria di portamento bis hin zur Aria parlante. Überdies setzt Cilea die Rhetorik der Affekte der neapolitanischen Oper ein. Der historische Verismo in Adriana Lecouvreur ist insofern nicht nur einer der Handlung, der Figuren oder des Ambientes, sondern ein historischer Verismo der Musik: Der musikalische Gestus und die musikalischen Formprinzipien der Partitur orientieren sich am historisch präfigurierten Stil.
Francesco Cilea hat auch Adriana Lecouvreur überarbeitet; die revidierte Fassung kam am 22. März 1930 am Teatro San Carlo in Neapel zur Aufführung. Bis heute ist die Oper Teil des internationalen Repertoires – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Titelpartie zu den bedeutenden Primadonnen-Rollen des italienischen Musiktheaters zählt. Magda Olivero gilt bis heute als maßstabsetzende Interpretin der Adriana Lecouvreur.
Hans-Joachim Wagner
(aus [t]akte 2/2019]