Symphonien, Konzerte, Streichquartette, Klaviersonaten: Die Beethoven-Ausgaben aus der Hand von Jonathan Del Mar überzeugen von der ersten bis zur letzten Note.
Zigtausende verkaufte Partituren, die Orchestermaterialien weltweit im Einsatz: Auch ohne dass es in den letzten Jahren sensationeller neuer Quellenfunde bedurft hätte, übertrifft Bärenreiters Beethoven-
Urtext-Ausgabe von Jonathan Del Mar bei Weitem alles, was man hätte erwarten können. Auch hat wohl zuletzt keine musikalische Neuedition solches Aufsehen nicht nur in der Fachwelt, sondern ganz allgemein in der Presse erregt, was auf das Zusammentreffen folgender Faktoren zurückzuführen ist: dass Beethoven das bleibende Maß aller Dinge in den Gattungen Symphonie, Streichquartett und Klaviersonate ist, dass seine Manuskripte für ihre schwere Lesbarkeit berüchtigt sind, dass mit Jonathan Del Mar ein Herausgeber angetreten ist, der wissenschaftliche Akribie mit empirischem musikalischen Sachverstand und jahrelanger aufführungspraktischer Erprobung verbindet wie nur ganz wenige Musikwissenschaftler, und dass er hierfür einen Verlag gefunden hat, der seinen Enthüllungen und Entdeckungen zielstrebig und nachhaltig zur Durchsetzung auf den Konzertpodien und im allgemeinen Bewusstsein verhilft.
Ziel: Spielbarkeit
So hebt Jonathan Del Mar denn auch sofort im Gespräch hervor, dass seine Urtext-Ausgaben stets in der Absicht entstehen, dass auch aus ihnen gespielt wird – dass sie also die Aufführenden nicht vor unnötige Unklarheiten und Widersprüche bei der Interpretation des Textes stellen. Für ihn ist es die ganz klare Aufgabe des Herausgebers, die Musiker nicht mit weiteren Fragezeichen zu überhäufen, sondern plausible Antworten zu liefern, soweit dies auf der Grundlage umfassendsten Quellenstudiums möglich ist.
Diese Grundhaltung, so sagt er, verdankt er seinem Vater, dem legendären Dirigenten Norman Del Mar (1919–1994), dem die Dirigenten nicht nur das Standardlehrbuch Anatomy of the Orchestra verdanken, sondern eben auch jene singuläre Kompilation von Druckfehlerberichtigungen in den Partituren der großen Meister, die 1981 unter dem Titel Orchestral Variations. Confusion and Error in the Orchestral Repertoire erschien und seither zur Standardhandbibliothek aller gut informierten Orchesterleiter gehört. Was die meisten nicht wissen: Jonathan Del Mar war der wichtigste Helfer seines Vaters bei der Veröffentlichung dieses Vermächtnisses, das in seiner unvermeidlichen Unvollkommenheit den Auftakt zu seiner eigenen, detektivischen Forscherlaufbahn bilden sollte: „Was ich außerdem von meinem Vater lernte, ist die Bedeutung der allgemeinen Repertoirekenntnis. Es ist nicht hilfreich, als Herausgeber eine Beethoven-Symphonie isoliert zu betrachten und zu untersuchen; es braucht eine ausgeprägte Kenntnis der musikalischen Umgebung, sowohl insbesondere der anderen Orchesterwerke Beethovens als auch von Symphonien anderer Komponisten vor und nach ihm.“
Entscheidend ist vor allem eine weitere Forderung an sich selbst, die Jonathan Del Mar von seinem Vater übernahm: nicht wenige, sondern keine Fehler zu machen als Herausgeber. Und er betont, dass der Anspruch des Bärenreiter Urtexts dieser Selbstverpflichtung entspricht, in welchem es u. a. heißt, dieser sei „ein Qualitätssiegel … garantiert Notentexte auf dem aktuellen Stand der Forschung … der Begriff für authentische Textgestalt der Werke“. Und daraus folgert Jonathan Del Mar: „Wenn wir von Musikern, die bereits Aufführungsmaterialien der Werke besitzen, erwarten, noch einmal in eine bessere Edition zu investieren, müssen wir den entsprechenden Aufwand an Zeit und Intelligenz betreiben, um jene Qualität bereitzustellen, die die Musiker mit Recht erwarten. Und es ist die Aufgabe des Verlags, Material herzustellen, das von praktischem Nutzen, also absolut akkurat ist.“
Erprobung in der Praxis
Was Del Mars Beethoven-Edition, allem voran der Symphonien, so einzigartig macht, ist jedoch darüber hinaus die jahrelange Zusammenarbeit mit ausführenden Musikern, wodurch das gesamte Material vielfach in der Praxis getestet wurde, bevor es zur Veröffentlichung kam: „Caroline Brown und Stephen Neiman von der Hanover Band beauftragten mich zwischen 1985 und 1992, von allen Werken, die sie aufnahmen, neue kritische Editionen zu erstellen. Auf diese Weise war ich immer verantwortlich, sicherzustellen, dass meine Entscheidungen in der Praxis annehmbar, also sinnvoll ausführbar zu sein hatten.“
Weg von subjektiven Auslegungen
Was nun ist Del Mars besondere Errungenschaft als Herausgeber? „Wegzukommen von subjektiven Auslegungen: Keiner ist an Del Mar interessiert, jeder will Beethoven. Keine andere Edition der Beethoven-Symphonien klärt die Musiker so deutlich und eindeutig über ungesicherte und zweifelhafte Details auf wie unsere: Wo besteht ein Zweifel, was ist die daraus resultierende Empfehlung, und wann kann keine zweifelsfreie Entscheidung getroffen werden – das alles ist übersichtlich aufgelistet. Und daher ist auch der Kritische Bericht jeweils ein untrennbarer Bestandteil der Partitur. Und hier haben wir, soweit ich es sehen kann, makellose Arbeit geleistet.“
Man muss nicht mit jeder Entscheidung, die letztlich in die Partitur gelangt ist, einverstanden sein. Unbestritten ist, dass Del Mar in der Fünften Symphonie plausibel belegen konnte, dass die lange Zeit propagierte komplette Wiederholung im Scherzo wegfällt und dem Satz jene Kompaktheit wiedergegeben wird, die das gesamte Werk kennzeichnet. Im Scherzo der Neunten Symphonie hatte Del Mar zu einer salomonischen Lösung gegriffen: Da bei der schnellen Temponahme auf Basis der Metronomisierung das Presto-Trio nicht im Verhältnis „ganze Takte = ganze Takte“ (verbunden durch ein Accelerando, das genau die Beschleunigung des Tempos um ein Drittel realisiert) genommen werden kann, die Übertragung der Metronomisierung auf Alla-breve-Einheiten jedoch lächerlich breit ist, folgte er zunächst der gängigen Praxis und verbannte die Metronomisierung des Trios aus der Partitur in den Kritischen Bericht. In der Neuauflage 2017 freilich hat er dann die Metronomisierung auf ganze Takte in die Partitur übernommen. Dazu ist es erforderlich, das Grundtempo des Scherzos – wie wohl als Einziger Celibdache – so maßvoll zu nehmen, dass sich das Trio in der übergeordneten Temporelation „ganze Takte = ganze Takte“ ausführen lässt: eine in der Proportion der Tempi absolut stimmige Lösung, die schlicht voraussetzt, die Metronomisierung außer Acht zu lassen. Ob das getan wird oder nicht, das ist – in exemplarischer Weise – eine jener „subjektiven Entscheidungen“, die Del Mar dem freien Willen der Ausführenden überlassen möchte. Er selbst hält wenig von blinder Metronomgläubigkeit.
Verwunderung über Dirigenten
Es sei nicht unterschlagen, dass ein so skrupulöser Herausgeber wie Jonathan Del Mar sich immer wieder wundern muss, wie sein Urtext in der Praxis tatsächlich verwendet wird: „Einige Dirigenten bzw. Orchester machen die Korrekturen wieder rückgängig, weil es natürlich unbequem sein kann, das Altbekannte neu einzustudieren. Sie behaupten dann zwar zu Recht, dass sie aus dem Bärenreiter Urtext spielen, doch sie spielen ihn nicht. Und ein sehr renommierter Dirigent hat vor einigen Jahren tatsächlich so einschneidende Änderungen am Notentext vorgenommen, dass es ihm gelungen ist, auf der Grundlage dieses neuen Urtexts die urtextfernste Gesamteinspielung der Schallplattengeschichte vorzunehmen, wofür er mit mehreren Kritikerpreisen ausgezeichnet wurde!“ Der Herausgeber trägt die Verantwortung für den Notentext, alles weitere liegt in den Händen der Musiker.
Christoph Schlüren
(aus: {t]akte 2/2018)