Michael Ostrzyga hat eine neue Vervollständigung von Mozarts Requiem erarbeitet. Im Gespräch berichtet er Christoph Schulte im Walde über sein Vorgehen. Die Nachwelt hat sich nie wirklich mit Süßmayrs Vervollständigung von Mozarts Requiem zufriedengegeben, so dass etliche weitere Komplettierungen angefertigt wurden. Nun hat Michael Ostrzyga (* 1975) einen neuen Versuch vorgelegt. Ostrzyga ist als Dirigent, Komponist und Kölner Universitätsmusikdirektor ein Mann der Praxis. Aber er ist auch Tonsetzer, ausgebildet und erfahren im Analysieren, Arrangieren, Instrumentieren und Anfertigen von Stilarbeiten. Lange und intensiv hat er sich mit Mozarts musikalischer Sprache auseinandergesetzt.
Mozarts Fragment gebliebenes Requiem zu ergänzen, wurde bereits mehrmals versucht. Nun legen Sie Ihre eigene Fassung vor. Warum?
Ostrzyga: Die Musik fasziniert mich schon immer, viel mehr als die ganzen Rätsel um die Entstehung. Natürlich kenne und schätze ich frühere Arbeiten. Wir stehen auf den Schultern derer, die vor uns da waren. Aber dass ich einen neuen Versuch gestartet habe, sagt wohl auch, dass mich bisherige Versuche nicht ganz überzeugten.
Was daran überzeugt Sie nicht?
Nun, sagen wir, es ist noch Potenzial unausgeschöpft geblieben, was die vergleichende Orientierung an den Notentexten Mozarts angeht. Und auch hat sich in den letzten Jahrzehnten vieles in der Forschung bewegt. Wir wissen mehr über die Schaffensweise Mozarts, aber auch mehr über das kompositorische Denken im 18. Jahrhundert. Die älteren verlegten Ergänzungen basieren weitgehend, mehr oder weniger, auf musiktheoretischer Ideologie, genau wie übrigens auch die musikwissenschaftliche Kommentierung der kompositorischen Zusammenhänge beim Requiem.
Orientierung an den Notentexten – heißt das, andere Werke Mozarts, insbesondere seine Kirchenmusik, geben Hinweise darauf, wie Mozart die fehlenden Teile seines Requiems geschrieben haben könnte?
Ganz genau werden wir das nie wissen, und Musik wird immer auch subjektiv wahrgenommen. Es ist aber nicht alles Geschmackssache. Die Notentexte lassen sich vergleichend in den Blick nehmen. Was kommt wie und wo und wie oft vor? Was kommt nicht vor? Dennoch ist es natürlich so: Etwas, das genau Mozarts stilistischen Vorgaben entspricht, kann missfallen, und etwas, das diesen nicht oder nicht ganz entspricht, kann gefallen. Das Ganze ist eigentlich ein Luftschloss. Aber manche Wahrscheinlichkeiten lassen sich besser begründen als andere, und da waren für mich die Notentexte Mozarts maßgeblich.
War das denn für frühere Bearbeiter nicht so?
Doch, das denke ich schon. Aber ich denke, einige haben sich nicht die Zeit für umfassende Sichtungen der Partituren auf diverse und immer wieder neu auftauchende Fragestellungen genommen, sondern sich der Einfachheit halber auf verallgemeinernde musiktheoretische Vorverständnisse oder ihr Stilgefühl verlassen. Anders lässt sich nicht erklären, dass zum Beispiel ein Querstand in Süßmayrs Sanctus als „grob“ und „unmozartisch“ kritisiert wird, obwohl Mozart Querstände, und auch genau diesen sowie sehr viele ähnliche, auch an vergleichbaren Stellen, geschrieben hat. Oder dass eine Requiem-Ergänzung mehr Extremtöne in Sopran und Tenor enthält als sämtliche Chorsätze Mozarts zusammengenommen, was eine absurd hohe Konzentration ist und daran vorbeigeht, dass bei Mozart solche Extremtöne nicht unmotiviert einfach so auftreten, sondern besonderen Situationen vorbehalten waren.
Da kam Ihnen sicher Ihre Erfahrung als Chordirigent entgegen.
Ja, so etwas fällt einem vielleicht nicht auf, wenn man nicht mit Vokalmusik in der Praxis zu tun hat. So viele Kolleginnen und Kollegen aus der Chorszene kommen, wenn es um Requiem-Bearbeitungen geht, auf die Tessitur-Probleme in dieser fraglichen Fassung zu sprechen. Die kontrapunktischen Materialien im Chorsatz sind in diesem Fall einfach in einer für Mozart unwahrscheinlichen Weise ausgewählt oder geschichtet. Trotzdem ist diese Fassung eine, die ziemlich oft aufgeführt wird.
Wo sehen Sie noch Probleme in der Annäherung?
Ein Forscher behauptet, Süßmayrs Rhythmus für „Domini“ im Benedictus sei „falsch“ und nie von Mozart geschrieben worden. Wäre es, wenn man das denn glaubt, nicht sinnvoll, sämtliche Notentexte nach dem Wort „Domini“ zu durchsuchen? In der Spatzenmesse findet sich ein Satz in vergleichbarem Tempo, und hier hat Mozart diesen Rhythmus sechsmal geschrieben. Oder: Es ist Lehrmeinung, dass Süßmayrs Hosanna viel zu kurz sei, und auch der Abschnitt davor im Sanctus. Was würden Sie tun, wenn Sie diesen Verdacht hätten?
… die entsprechenden Sätze Mozarts heranziehen?
Genau! Denn was könnte leichter überprüfbar sein? Es ist erstaunlich: Aber das hat bis heute noch niemand gemacht. Zumindest habe ich keine Stelle in der Forschungsliteratur gefunden. Und diese Meinung über Sanctus und Hosanna kommt sehr oft zur Sprache. Da in der Literatur Meinungen angesehener Forscher immer wieder wiederholt werden, als handele es sich bei diesen Meinungen um eine Tatsache, werden sie zur Wahrheit.
Haben Sie die gesamte Forschungsliteratur gelesen?
Das ist wahrscheinlich nicht möglich: Es ist so viel geschrieben worden zum Requiem! Aber ich habe es versucht. Ich habe sehr viel gelesen.
Zurück zum Hosanna bzw. Sanctus. Ist es denn bei Süßmayr zu kurz?
Bei Mozart kommen ähnliche kurze und noch kürzere Sätze dieser Art vor, vor allem in Werken, die er 1791, im Entstehungsjahr des Requiem-Fragments, aufgeführt oder auf dem Schreibtisch liegen hatte.
Mir fällt auf, Sie verteidigen Süßmayr.
Ja, Süßmayr hat sicher vieles gemacht, was unwahrscheinlich ist oder man für Mozart wohl ausschließen kann. Aber seine Kritiker, vor allem im 20. Jahrhundert, haben ihn so oft zu Unrecht gescholten, weil sie es nicht besser wussten, aber vielleicht hätten besser wissen sollen. Das Requiem bringt das Beste, aber auch das Schlechteste im Menschen hervor. Ein Forscher hat vor einigen Jahren die Requiem-Debatte der Musikwissenschaft mit der Filmreihe „Der Pate“ verglichen.
Was war Ihnen bei Ihrer Arbeit noch wichtig?
Händel und Bach. Die Musik im Fragment spricht diesbezüglich Bände, aber wir wissen auch aus anderen Quellen, dass Mozart sich bewusst und gezielt mit der Musik Händels und Bachs auseinandersetzte und dies ins Requiem einfließen ließ. Deshalb habe ich jene Werke der beiden älteren Komponisten, die Mozart gekannt hat oder gekannt haben dürfte, herangezogen und versucht nachzuspüren, wie sich das in den späten Werken Mozarts zeigt. Ganz konkret hat Mozart für das Requiem Händels Funeral Anthem for Queen Caroline studiert. Das habe ich mir auch genau angesehen und versucht, Spuren davon im Fragment auszumachen, und zwar nicht nur im Introitus, das ist ja ein alter Hut. Dann hat Mozart ja einige Händel-Oratorien bearbeitet, so dass ich Original und Bearbeitung vergleichen konnte. Und er hatte ein Faible für Fugen Bachs. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich das im Requiem gezeigt hätte.
(aus „Musik & Kirche" 4/2022 und „[t]akte“ 2023)