Die aus Bulgarien stammende Mezzosopranistin Vesselina Kasarova ist ein gern verpflichteter Gast auf den Bühnen der Welt. Nach Abschluss ihres Gesangsstudiums in Sofia 1989 kam sie ans Zürcher Opernhaus. 1991 debütierte sie bei den Salzburger Festspielen, wo sie als sensationelle Entdeckung gefeiert wurde. Nach zwei Jahren im Ensemble der Wiener Staatsoper begann 1993 ihre rege internationale Gastspieltätigkeit. Mit der Zürcher Oper als Stammhaus erarbeitete sie sich im Lauf der Jahre ein Repertoire, das von Monteverdi, Händel und Mozart über die Belcanto-Komponisten Rossini, Donizetti und Bellini bis zu Berlioz, Massenet, Bizet, Saint-Saëns, Verdi und Wagner reicht. Parallel zu den Auftritten in den großen Opern- und Konzerthäusern ist eine umfangreiche Diskografie entstanden. In dem Buch Ich singe mit Leib und Seele zieht sie im Gespräch mit Marianne Zelger-Vogt eine Bilanz ihrer bisherigen Karriere. Dabei wird schnell deutlich, dass Kasarova kein Jet-Set-Star ist, sondern eine Künstlerin, die ihre Rollen und ihr Leben als Sängerin kritisch reflektieren kann. Im folgenden Ausschnitt denkt die Sängerin über die Identifikation mit Opernfiguren, über Hosenrollen und Altersgrenzen nach.
Müssen Sie sich mit einer Figur identifizieren können, um sie auf der Bühne glaubhaft darzustellen?
Ich lasse mich vor allem von der Musik inspirieren. Dann versuche ich mir vorzustellen, was das für ein Charakter ist, was in dieser Figur vorgeht. Dabei lasse ich meine Fantasie spielen, fast wie in meiner Kindheit, als wir Rollenspiele machten. Mich faszinieren Figuren, die völlig anders sind als ich. Ich nehme mir nicht vor, etwas ganz Besonderes aus einer Rolle zu machen, sondern bemühe mich, natürlich und mit einfachen Mitteln so glaubwürdig wie möglich zu sein. Authentizität ist das Wichtigste! Aber ich lebe mit meinen Rollen nur, solange die Vorstellung dauert, sobald sie zu Ende ist, lege ich sie ab und kehre in mein eigenes Leben zurück. Sonst könnte ich auf der Bühne nicht immer wieder die nötige Fantasie und Spiellust entwickeln.
Man kann aber wohl nur dann in einer Rolle aufgehen, wenn man sie stimmlich ganz beherrscht. Und wenn das auch beim Partner oder der Partnerin der Fall ist.
Das ist ganz entscheidend! Es gibt Sänger, nicht nur der älteren Generation, die so sehr mit der stimmlichen Bewältigung ihrer Partie beschäftigt sind, dass sie gar nicht spielen können und nur auf sich selbst bezogen sind. Ist ein Sänger nervös, empfindet das Publikum seine Darstellungsweise unter Umständen als besonders spannungsvoll oder intellektuell. Die Kolleginnen und Kollegen, die mit ihm auf der Bühne stehen, nehmen das ganz anders wahr. Wir leiden, wenn wir solche Partner haben, es bedeutet gleichsam doppelte Arbeit. Andere beherrschen die anspruchsvollsten Partien so souverän, dass man die Schwierigkeiten überhaupt nicht realisiert. Von solchen habe ich gelernt, was Kunst ist und was gute Sänger ausmacht. Singen und Spielen sollten ein untrennbares Ganzes werden.
Können Sie sich auch mit eindeutig negativ gezeichneten Figuren identifizieren? Ich denke zum Beispiel an Händels durchtriebene, machtgierige Agrippina, die vor keiner Intrige zurückschreckt, um ihren Sohn Nero auf den Kaiserthron zu bringen.
Ich glaube, dass in jeder Rolle – wie auch in jedem Menschen – etwas Gutes steckt. Sie sind nicht von Natur aus böse, sondern durch bestimmte Umstände und Erfahrungen so geworden. Das gilt auch für Agrippina, die ich als eine attraktive, von ihrem Mann immer wieder betrogene und verletzte Frau sehe, die nicht akzeptieren kann, dass sie alt wird. Das versuche ich in der Schlussszene zu zeigen, und das macht sie für mich zu einer ganz modernen Gestalt. Ein weiteres Beispiel aus meinem Repertoire ist Farnace in Mozarts Mitridate, Re di Ponto, der ungeliebte Sohn, der seinem Vater den Thron und die Braut streitig macht und am Schluss, wenn er sich auf seine Ehre und seine Pflicht gegenüber Mitridate und dem Volk besinnt, gleichsam zu sich selbst zurückfindet.
Welche Bedeutung haben das eigene Alter und die Lebenserfahrung für die Darstellung einer Rolle? Ist es schwieriger, als reife Sängerin eine junge Frau oder einen jungen Mann zu spielen? Gibt es vielleicht sogar eine „Altersgrenze“ für bestimmte Rollen, zum Beispiel für Hosenrollen, die ja stets Jünglingen zugedacht sind?
Darüber mache ich mir tatsächlich manchmal Gedanken. Auf keinen Fall möchte ich als Darstellerin einer jungen Person lächerlich wirken. Letztlich geht es auch da um das Spiel, um die Kunst der Verwandlung. Ob ich einen jungen Liebhaber oder eine Femme fatale wie Offenbachs Belle Hélène verkörpere, jedes Mal muss ich eine andere Person werden. Das gilt nicht nur für die Darstellung von Figuren, die jünger sind als ich. Natürlich überlege ich mir, ob ich für eine Rolle noch den richtigen Körper, die richtige Gestik habe. Vor allem muss ich selber an das, was ich mache, glauben. Es ist auch eine Frage der Erfahrung. In dieser Beziehung traue ich mir heute eigentlich jede Rolle zu – was nicht heißt, dass ich jede Rolle singen möchte. Manches habe ich verpasst, doch ich kann mich nicht beklagen, mein Repertoire ist groß und vielfältig genug. Glück hatte ich insofern, als ich mich im Belcanto-Fach genau zu dem Zeitpunkt etablieren konnte, als die Opernhäuser und Plattenlabels im Zug der Repertoire-Erweiterung unter anderem die vergessenen Werke Rossinis und Donizettis wiederzuentdecken begannen. Auch Mozart-Opern wie Tito, Idomeneo oder Mitridate sind erst in den letzten Jahrzehnten zu Repertoirewerken geworden, und Ähnliches gilt für viele Händel-Opern.