Mit ihrer jüngsten Publikation hat die Heidelberger Musikprofessorin Silke Leopold den Kosmos der Händel-Opern geordnet und auf allgemein verständliche Weise dargestellt. [t]akte konnte der Autorin einige Fragen zum Buch und seinem Gegenstand stellen
[t]akte: Wie kam es zu diesem Buch und wo würden Sie es unter den zahlreichen Neuerscheinungen im Händel-Jahr positionieren?
Leopold: Mit Barockoper beschäftige ich mich seit vierzig Jahren – zuerst praktisch, später dann auch wissenschaftlich. Die Anregung dazu verdanke ich Jürgen Jürgens, in dessen Hamburger Monteverdi-Chor ich 1969 einen damals noch weitgehend unbekannten Komponisten namens Claudio Monteverdi kennenlernte. Seit dieser Zeit hat mich das Thema Barockoper nicht mehr losgelassen, und irgendwann kam dann auch die Beschäftigung mit Händels Opern als Musterbeispiel und Sonderfall der Barockoper dazu. Umgetrieben hat mich immer auch die Frage, warum die sogenannte Opera seria bis in die jüngste Vergangenheit so sehr unter dem Generalverdacht des Künstlichen und Undramatischen steht, dass man sie dem heutigen Publikum nur in mehr oder weniger entstellenden Bearbeitungen zumuten mochte. Und das, obwohl die Barockoper im Allgemeinen und Händels Opern im Besonderen, wie ich finde, von einer atemberaubenden Aktualität sind. Hierzu habe ich in den letzten Jahren eine Menge Detailstudien publiziert, und ich wollte diese Fragen nun auch einmal in einer übergreifenden Darstellung und in einem Ambiente außerhalb des engeren Fachkollegiums diskutieren. Mit dem Händel-Jahr hat das alles nichts zu tun. Ich hoffe, dass mein Buch auch im nächsten Jahr noch Leser findet.
Weshalb haben Sie Ihr Buch in einen umfangreicheren analytisch-werkübergreifenden ersten Teil und den eher opernführerhaft angelegten zweiten Teil Händel-Opern von A bis Z gesplittet?
Ich verstehe die beiden Teile des Buches als komplementär. Das, was Sie „opernführerhaft” nennen, halte ich für nötig, um den ersten, thematisch übergreifenden Teil auch einer Leserschaft vermitteln zu können, die nicht automatisch bei der Nennung einer Arie die gesamte Oper, aus der sie stammt, lückenlos im Kopf präsent hat. Wer hätte das schon? Der zweite Teil des Buches dient einerseits dazu, die Informationen bereitzustellen, die nötig sind, um den Argumentationen im ersten Teil leichter folgen zu können. Ich kenne allerdings, dies nur am Rande, keinen Opernführer, der auch nur die Hälfte aller Händel-Opern behandeln würde – nicht einmal Pipers umfassende Enzyklopädie des Musiktheaters, und auch keinen, der die Opernhandlungen in derselben Ausführlichkeit nacherzählt. Denn es ging mir andererseits auch um eine Ehrenrettung der Libretti, die ja gern (manchmal sogar von dem ansonsten nahezu unfehlbaren Händel-Forscher Winton Dean) als literarisch wertlos, zusammengestoppelt oder unlogisch abqualifiziert werden. Wenn man sich aber die Mühe macht, sie genau zu lesen, vor allem die für das Verständnis der Motivationen so unverzichtbaren Dialoge, sie außerdem im Kontext ihrer Quellen zu betrachten, ergibt sich ein völlig anderes Bild.
Aus welchem Grund haben Sie auf die Nennung und Kommentierung von Händels beiden gewichtigen Opern-Pasticci „Giove in Argo” und vor allem dem mit großer Sorgfalt vom Komponisten zusammengestellten „Oreste” verzichtet, anhand derer sich der barocke „Werkbegriff“ besonders plastisch hätte darstellen lassen, der sich so weitgehend von dem des 19. Jahrhunderts unterscheidet?
Sicherlich hätte ich anhand der Pasticci auch den barocken Werkbegriff erörtern können. Das war aber nicht mein Thema. Statt dessen habe ich mich aus purem Pragmatismus an das gehalten, was das Händel-Werkverzeichnis als Oper ausweist. Warum? In meiner Einleitung habe ich dies zu erläutern versucht: Weil diese annähernd vierzig Opern alle Antworten auf die Fragen enthalten, die ich an Händels Musik im Kontext dieses Buches stellen wollte. Ich kann die Liste dessen, worüber ich nicht geschrieben habe, übrigens noch erweitern: über Händels eigene Umarbeitungen für spätere Wiederaufnahmen, über die Schauspielmusiken, über die weltlichen Oratorien, deren eines (Semele) sogar auf einem Opernlibretto basiert, über die zeitgenössischen Editionen undundund … Natürlich hätte ich all dies auch behandeln, andere Fragen stellen, anderes Material verwenden können. Händels Opern sind ein unerschöpfliches Thema. Es wäre dann halt ein anderes Buch geworden – oder zumindest ein deutlich längeres.
Wie erklären Sie sich, dass die Renaissance der Händel-Opern noch einmal deutlich an Profil gewonnen hat und zu einem globalen Phänomen geworden ist?
Ich glaube, dass diese neueste aller bisherigen Händel-Renaissancen wie die früheren auch weniger mit Händel selbst als vielmehr etwas damit zu tun hat, dass sich das Publikum in irgendeiner Weise in Händels Werken, diesmal nun in den Opern wiederfindet. Denn die derzeitige Händel-Renaissance ist ja vor allem eine der Opern oder der auf die Opernbühne gebrachten Oratorien. Ungeachtet der wissenschaftlichen Debatten darüber, ob die Opera seria nun eine „verklungene”, obsolete, veraltete Opernform sei oder vielleicht doch nicht, spürt das Publikum offenbar überall, dass die Geschichten, die Händels Musik erzählen, etwas mit uns selbst zu tun haben – die Geschlechterrollen, die nicht auf Unterwerfung, sondern auf Übereinstimmung gründen, die Ebenbürtigkeit von Mann und Frau, die die Oper (und nur die Oper) durch die Wahl der identischen Stimmlage für Männer- und Frauenrollen zum Ausdruck bringen kann, die zärtlichen Männer und die starken Frauen, die so anders sind als Wotan und Carmen, die virtuellen Welten der Zaubergärten, in denen zu verweilen mindestens so erstrebenswert ist wie in der strengen Realität, der Zwang, um des eigenen Fortkommens willen die Affekte zu kontrollieren und zwischen „öffentlichem” und „privatem” Handeln genau zu unterscheiden – all dies sind Themen, die in Händels Opern verhandelt werden, all dies aber auch Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen. Ich glaube nicht, dass die derzeitige Händel-Opern-Renaissance primär auf antiquarischem, historischem Interesse gründet, sondern eher auf der neuen und verblüffenden Erkenntnis, dass diese vermeintlich so alte Musik so aktuelle Antworten zu geben in der Lage ist.
Welche Erwartungen knüpfen Sie an das ja bereits weit fortgeschrittene Händel-Jahr 2009?
Keine – weil Gedenkjahre kaum jemals etwas anderes als Strohfeuer generieren.
Was wären Ihre Favoriten für die berühmte einsame Insel?
Was mich an Händels dramatischer Musik besonders fasziniert, ist seine ungeheuerliche musikalische Empathie – seine Fähigkeit, menschliche Charaktere in all ihrer Schönheit und in all ihren Verstrickungen zu entwerfen, die Abgründe der menschlichen Seele hörbar zu machen, ohne die Personen zu denunzieren. Insofern würde ich drei Opern einpacken, in denen diese Kunst besonders sinnfällig wird – allen voran Tamerlano, dann (wenig überraschend) Alcina und Giulio Cesare. Und vor meiner Abreise heimlich eine Flaschenpost mit Peilsender in den Neckar werfen, die mir Rodelinda, Agrippina und alle anderen zuverlässig auch noch anschwemmt.
Die Fragen stellte Ulrich Etscheit
Atemberaubende Aktualität. Silke Leopold über ihr Händel-Buch
Silke Leopold
Händel. Die Opern.
Bärenreiter-Verlag 2009.
324 Seiten. € 39,95 / CHF 71,90.
Bild oben: „Radamisto” in Karlsruhe (Photo: Jacqueline Krause-Burberg)